Die Türken werden bald einen Ombudsmann bekommen und können erstmals auch das Höchstgericht anrufen, doch drei Monate nach der Annahme einer Justizreform im Strafwesen macht sich nun Ernüchterung breit: Die U-Häftlinge sitzen weiter.

 

Der Hungerstreik geht in die sechste Woche - und dass nun das muslimische Opferfest mit seinen üppigen Fleischgerichten vor der Tür steht, macht die Sache nur noch unangenehmer für die türkische Regierung: 63 der Angeklagten in den Massenprozessen um angebliche PKK-Sympathisanten verweigern seit September die Nahrungsaufnahme. Ihr Zustand werde kritisch, sagen die Ärzte. Dabei hätte die große Justizreform vom vergangenen Sommer das Problem der Tausenden von Untersuchungshäftlingen lösen sollen, die zum Teil seit Jahren in türkischen Gefängnissen auf ein Verfahren und ein Urteil warten.

Die Erwartung sei gewesen, dass vor allem wichtige gewählte Politiker nach und nach freikämen, sagt Mithat Sancar, Jus-Professor und Kolumnist der liberalen Tageszeitung Taraf. "Die Reform hat das Klima ein bisschen milder gemacht, und wahrscheinlich hat sie als Botschaft des Parlaments an die Justiz eine indirekte Wirkung gehabt. Aber die Öffentlichkeit spürt noch keine Veränderung", meint Sancar im Gespräch mit dem Standard.

Sancar hat die zahlreichen kurdischen Bürgermeister und Stadträte im Blick, gegen die wegen angeblicher Mitgliedschaft bei der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) Verfahren laufen; die KCK gilt als politischer Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die Zahl der Verhafteten soll bei über 4000 liegen. Auch Bekir Kaya, Bürgermeister in Van, das im Vorjahr von einem heftigen Erdbeben getroffen wurde, hat sich nun dem Hungerstreik angeschlossen. Kaya war vergangenen Juni verhaftet worden.

Artikel 100 im Reformpaket legt die Bedingungen für eine Untersuchungshaft fest. "Konkrete Begründungen waren vorher nicht notwendig, Anklagen waren unklar und nur der Form halber geschrieben", erklärt Fikret Ilgiz, ein ehemaliger Anwalt der Bürgerrechts-NGO Bianet, im Gespräch mit dem Standard. "Jetzt braucht man für einen Haftbefehl klare Gründe, konkrete Fakten, einen starken Verdacht auf ein Verbrechen. Das ist sicher eine der wichtigsten Änderungen."

Reform bei Richterschaft

Das sogenannte dritte Reformpaket - das erste war 2009 - hat die Funktion des "Freiheitsrichters" geschaffen. Er muss parallel zum Gericht, das einen Straffall behandelt, den Antrag auf Verhaftung eines Verdächtigen beurteilen. Sancar ist auch da skeptisch: "Das Gericht verhaftet automatisch. Bis jetzt haben wir nicht gespürt, dass der Freiheitsrichter ins Spiel gekommen ist."

Die EU-Kommission zieht im jüngsten Fortschrittsbericht über den Beitrittskandidaten Türkei auch nur eine nüchterne Bilanz der Justizreform. "Problematische Bereiche in der türkischen Strafjustiz wurden nicht ausreichend behandelt", heißt es, das Paket sei aber zumindest "ein Schritt in die richtige Richtung".

Kein Nachlassen in der Verfolgung türkischer Journalisten sieht Reporter ohne Grenzen. Das Aussetzen von Verfahren für "Meinungsverbrechen" vor Ende 2011 laut Reformpaket - vorausgesetzt, der Journalist wird innerhalb von drei Jahren nicht wieder straffällig - führe zu Selbstzensur. (Markus Bernath aus Istanbul /DER STANDARD, 22.10.2012)